Texte des Jahres 2021

Anna Selbdritt

Auf drei Füßen ruht das Bild, ein Dreieck, das die Stille in ihrer Vollkommenheit trägt. Die Linie von Fuß zum Kopf der Anna bildet ein Kreuz mit der Linie von der Schulter zum Scheitel der Tochter. Lamm und Kind blicken auf in die Gesichter ihrer verschmolzenen Leiber. Anna thront aufrecht, von ihrem Schoß beugt sich fürsorglich die Tochter hinab zum Kind. Die Dunkelheit, die kommen wird, fällt aus dem Bild ins Auge des Betrachters. Keine Rettung in Sicht, nur die Öde der Landschaft im Hintergrund, die sich ausdehnt, wie die Endgültigkeit. Wäre da nicht das Lächeln der Frauen.

Wortlandschaft

Der Weg führt durch die Landschaft aus Wörtern, Zeilen, Umbrüchen und Absätzen, die sich zu Hügeln und Bergen formen. Hier Wiesen, da Felder mit dem Redefluß zwischen den Ufern hindurch. Ahorn und Zeder setzen Zeichen, wenn der Wind alles bewegt. In den Zwischenräumen der Widerspruch zwischen Stille und Schweigen, der jedem Halm und den fliegenden Blättern Bedeutung verleiht. Also das Ungesagte. Die Sprache bedient sich der strömenden Luft und die Töne werden Klang, der bis in die Häuser vordringt, bis in die letzte Kammer, angefüllt mit Seufzern, dem Gelächter wider die Angst, den Liedern, Befehlen und den Schreien, den Schwüren und zärtlichen Lauten. Ein Gebirge aus Bedeutungen, die Mauern sprengen könnten. In den Händen ein beschriebenes Blatt mit dem Gedicht, das das Unwiderlegbare, das Gültige, das Wahre feiert, bis es vom Wind mitgerissen über der Landschaft verweht und in den Kreislauf zurückkehrt.

Vom gewesenen Tage

Der Morgen wirft seine Netze aus,
feine Regenschnüre in Nebelschleier gewoben.
Metallisches Grau von Worten übriggeblieben,
die sich verfangen haben. Weiß der Kuckuck warum!

Die blattlose Linde vorm Fenster neigt sich gegen die
Schattenspuren ihrer Zweige,
Tröpfchen hängen an ihnen wie Mehltau.
Ein Nagel durch Jahresringe geschlagen,
trägt ein Schild, das vor Gefahren warnt.

Krähe hacken mit ihren gerissenen Schnäbeln
Wunden in die versteinerte Luft,
Die Geschichte der Menschheit spiegelt sich in ihren Augen.
Dunst aus der Kanalisation steigt auf wie eine Verheißung.

Was soll man noch sagen:
Die Ankunft des Briefträgers bleibt bis auf weiteres Ungewiß.

Nachtwandler

Hausfassaden in den Farben verblichener Lumpen, schmutziges Braun, Ocker, wie eine Erinnerung an verwaschenes Gelb, eine Galerie der Gründerzeit links und rechts der Straße, beinahe leergefegt, mit Resten von Ereignissen im Rinnstein, die längst die Tore hinter sich geschlossen haben. Die Träume riechen nach alten Kartoffelsäcken und die Sterne stellen nur eine Möglichkeit des Lichts dar, verspiegelt in Augen, die verletzt sind von verblendeten Tagen. Dunkles breitet sich über Sonnenuhren in den Vorgärten aus. Grünes trauert hinter schmiedeeisernen Gittern. Und auf wippenden Pferden kommen nicht mehr kleine Mädchen vorüber, dem Pferdesprung beinahe entwachsen; und schauen nicht auf, irgendwohin, herüber. Die Stadt ist abgetaucht im Ozean der Nacht, auf dessen Grund Traumwandler umherirren. Ihre leeren Blicke suchen nach dem einen erleuchteten Fenster. Als erwarte sie jemand jenseits des schmutzigen Brauns, des Ockers, des verwaschenen Gelbs, als gehörten die Reste von Grün zu einer Tür, die sich noch einmal öffnen könnte.

Von wegen

Verurteile nicht die Kuh auf dem Eis. Beachte die Verhältnisse und deinen Standpunkt, ein Unort auf brüchigem Grund. Nimm an, du seist der Drehpunkt der Verhältnismäßigkeiten. Halte still, denn von deiner Ausdauer hängt auch das Gleichgewicht zwischen Kuh und Welt ab. Das Eis wird schmelzen, wenn die blauen Bänder über der Schicksalsgemeinschaft aus Kuh und Du flattern. Auch Atlantis ging unter auf Nimmerwiedersehen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Kuh wird ohne Schuldzuweisung ersaufen. Du aber bist bestellt, um mit dem Schicksal zu hadern, während ein Pirol unter Federwölkchen sein Trauerlied auf die ersoffene Kuh und dich anstimmt.

Wolken

Vergiss die Wolken nicht, auch jene nicht, die nur Minuten blühen. Auf sie zu warten, um mit ihrem Schattenwurf über Land zu gehen, reicht nicht aus, um zu verstehen, dass ihre Flüchtigkeit nach einem Bild in uns verlangt.
Suche in den Wolken Wesen mit Gesichtern von Tieren und Dämonen, Sie erscheinen zwar als Orakel, doch ist es ihnen gleichgültig, was mit uns in Zukunft geschieht. Manchmal dringen sie durch die Augen in uns ein und hinterlassen eine weiche Verwüstung. Die Gewalt gebrochener Wolken kann maßlos sein, aber strafmündig sind sie deshalb noch lange nicht.
Wolken sind weder Rauch noch Qualm. Sie geben keine Zeichen, die uns betreffen könnten. Freiheit über ihnen existiert nicht, nur Grenzen, an denen sie sich auflösen, ohne Spuren zu hinterlassen. Selbst ihre Spiegelbilder in einem Dorfteich bleiben ohne Folgen.
Wolken lassen sich nur schwer verarbeiten. Versuche, Schleierwolke im Labor zu weben, scheiterten an den Gesetzen der Natur.
Bedenke, dass Wolken nur entstehen können, wenn warme Luft aufsteigend abkühlt. Dadurch ist die Würde der Wolke unangreifbar, auch wenn sie gewissenlos ist.
Vergiss nicht, dass ihre flüchtige Anwesenheit ausreicht, um eine Sehnsucht in uns zu wecken, die immer wieder die Tür vor dem Abgrund in uns zu schließen vermag.

Chopin, Sonate Nr. 3 h-Moll op. 58
IV. Finale: Presto, ma non tanto, agitato

Die Mittelstimmen eröffneten das Rondo mit großer Gebärde, wuchtig und dissonant, ein aufschäumender Überfluß aus den Herzkammern der Musik, rücksichtslos und doch klug berechnet. Als ich eine Frage stellen wollte, war die Antwort bereits mit gelöstem Schwung linkerhand ab und rechterhand hinauf geströmt. Farben explodierten unter der Schädeldecke. Ich versank tief in meinem Körper zwischen Gedärm, Geräusch und Gestank und traf meine Seele, die mich aufforderte innezuhalten. Wir lauschten unbenommen, ich mit heiterem Erschrecken und sie mit Kennermiene. Nichts gab es zu analysieren. Die Stille mußte doch kommen und war, als sie eintraf, endgültig und unabänderlich wie ein gütiger Richtspruch.

Vor der Auferstehung

Die Stille zwischen den Kunstblumen bettelt um Beachtung vor einem Hintergrund, der sich bis zum Zerreißen spannt. Denn sie sind dazu verdammt, still zu sein. Regungslos beharren sie auf der Natürlichkeit ihrer handgemachten Schönheit. Und doch kann man sie hören, jene Kunstblumen, die etwas zu verkünden haben. Was ist das aber für ein Stillleben, das nicht schweigen kann inmitten seiner bildhaften Unruhe aus Flächen, Grenzen und Überlagerungen, die genau um ihre Wirkung wissen und allen Blicken mit stillem Vorwurf standhalten. Denn die Nelke, die Rose, die Aster mit dem Draht im Leib sind gepeinigt von der Ahnung, in Reih und Glied vor der Metallwand einer Schießbude aufgesteckt, über Kimme und Korn einfach abgeschossen zu werden.

Kunstblumenstilleben

Die Stille zwischen den Kunstblumen bettelt um Beachtung vor einem Hintergrund, der sich bis zum Zerreißen spannt. Denn sie sind dazu verdammt, still zu sein. Regungslos beharren sie auf der Natürlichkeit ihrer handgemachten Schönheit. Und doch kann man sie hören, jene Kunstblumen, die etwas zu verkünden haben. Was ist das aber für ein Stillleben, das nicht schweigen kann inmitten seiner bildhaften Unruhe aus Flächen, Grenzen und Überlagerungen, die genau um ihre Wirkung wissen und allen Blicken mit stillem Vorwurf standhalten. Denn die Nelke, die Rose, die Aster mit dem Draht im Leib sind gepeinigt von der Ahnung, in Reih und Glied vor der Metallwand einer Schießbude aufgesteckt, über Kimme und Korn einfach abgeschossen zu werden.

Grober Regen, Luzern

Die Kapellbrücke, dermaßen getroffen von der Wucht jedes einzelnen Tropfens, zickzackte aus der Linearität heraus, zwei Knicke bildend, die von Touristen, kurz vor dem Durchbruch einzelner Sonnenstrahlen, als Hintergrund fotografiert wurden. Ein Lächeln auf den Lippen und Bilder über den Köpfen vom Totentanz, auch vom Riesen von Reiden. Und dachten nicht daran, wie lang er vor ihnen da war. Und, daß man seine Gebeine gefunden und behalten, das Übrige aber der Erde zurückgab, in der es geruht hatte. Unwissend schickten die Touristen ihr Lächeln um die Welt. Was aber bleibt vom Tage übrig, der standhielt unter den Einschlägen grober Regentropfen und die Anwesenheit eines toten Riesen schweigend bewahrte, dessen Schulterblätter aus Mammutknochen bestanden.

Fisch – physiognomisch

Er denkt im einfallenden Licht an den Spiegel im Mond, der das Bild vom schielenden Fisch hütet, ein Breitmaul mit schmalen Lippen voller Sinnlichkeit und schimmernden Schuppen. Die Wände des Aquariums spiegeln ihn und antworten stoisch auf seine Frage: Wer der Schönste im gläsernen Kasten ist. Und dabei bleibt er, was er ist, ein Allerweltfisch mit dem Traum von grenzenloser Schönheit auf engstem Raum, den nicht einmal Austern zu träumen wagen. Vielleicht könnte ein Angelhaken in der Unterlippe seinem Denken eine andere Richtung geben.

Zaunlos

Im Keilrahmen ölfarbige Flächen, die darauf bedacht sind, sich voneinander abzugrenzen. Eingebettet in Gips, auf Papier, von Karton getragen, der nicht weich wird, ruht etwas Eingepferchtes. Und kein Zaun, kein Zwischenraum, kein Schattenwurf von parallelen Streifen kann die Entgrenzung sichtbarer machen als die abgenutzten Rahmenleisten, die originär sind. Im Streulicht erhebt sich im Goldenen Schnitt ein Kreuz, das aus einem langen senkrechten Balken und einem kürzeren waagerechten Balken besteht, oder man sieht einen Körper mit Schattenflügeln, der grenzenlos in das Gefühl räumlicher Tiefe hineinragt.

Texte des Jahres 2020

Pirol bei Kaatschen, Mai 2019

Wenn ich an meine Kindheit denke, höre ich den klangvollen Gesang des Pirols, der, sich überschlagend, zum Ohrwurm meines Daseins wurde. Als mich an jenem Maitag sein Flötenton am Ufer der Saale überraschte, traf er mitten ins Herz. Und die Tür hinaus in mein Leben schien sich noch einmal einen Spaltbreit zu öffnen, als wär's nicht schon längst den Fluß hinuntergetrieben. Und ich trank mit letzter Gewißheit den Tultewitzer Weißburgunder, während wieder jener gelbe Ruf ertönte, der in Kaatschen das Zauberwort traf: Und die Welt hob an zu singen.

Rom, violett

Tauben, gurrende Schattenrisse, flatternd im Lichtquadrat des Hinterhofs. Darüber die Tonspuren der Mauersegler unsichtbar am Himmel, der wie dürres Laub knistert. Die Stadt vor der Hitze auf eine Insel im Tiber geflohen. Als könne hier das Wasser nicht sieden und die Insel samt Rom ewig bestehen. Der Tod, der Welt nicht abhandengekommen, wandelt ungebeten durch das Flüstern in den Apsiden. Was wollte man der Mutter Gottes mitteilen? In summa ist der eigene Schmerz immer noch am nächsten. Eine Kerze angezündet für das nicht Erfüllbare und das eigene Heil. Dabei kommt die Stille aus den Augen der Flüchtigen. Wegsehen, weghören, weggehen. Und verkündige ihnen wie große Wohltat dir der Herr getan und sich deiner erbarmt hat. Geduld ist kein Spiel. Dann lieber warten in der Schlange, wo jeder auf seinem Schatten steht und mit der Hand im marmornen Maul des Löwen auf den Biß der Wahrheit hofft. Und zum Schluß die Kuppel der Basilika Sant Pietro durch ein Schlüsselloch betrachtet, als führe da hindurch der Weg ins Himmelreich.

Schlußakkord

Abgekühlt ist längst die Luft
Und ein lockend dunkler Duft
Strömt aus regennassem Heu.
Augen aus den Büschen starren,
im Gestrüpp ein leises Scharren,
irgendetwas bricht entzwei.
Abgehakt ist jene Stunde.
Nur der Mond dreht seine Runde
bis zum ersten Hahnenschrei.
Nichts kann bleiben, wie es war,
dieses nicht und nächstes Jahr,
nur der Schlußpunkt bleibt uns treu.

Café Slavia

Hier lobten sich die Dichter gegenseitig, ohne sich in die Augen zu blicken. Hier nahmen sie bei Kaffee und Absinth das Tödliche und Ungetüme hin und hielten es auf die Länge einer Zigarette aus. An den runden Tischen schwieg das Namenlose genauso wie das Anonyme. Unbeschriebene Blätter warteten vergeblich auf den ersten Versuch. Auch ich nahm mir das Recht, hinter einer venezianischen Maske wenigstens wahr zu sein. Dabei erkannte ich, daß mich Stille und Hoffnung mochten, auch ohne Ruhm.

Schwanensee, Belvedere

Die Wasserfläche, Grenze zwischen Licht und Abgrund, spiegelt das leere Schwanenhaus. Weder Satyr noch Elfe regen sich im Schein der alten Weiden, nur Schatten von Selbstmördern schwanken im Schilf. Kein Mensch in dieser Stunde, der sein Spiegelbild in der Wasserstille umarmen möchte. Endlich nimmt sich ein Eisvogel die Freiheit, fängt einen Fisch und zieht kreischend eine leuchtende Spur über dem See.

Das Lächeln

Sommergrün, gerader Wuchs, im Windhauch,
der die Säulenkronen schwanken läßt, wie zum
Gruß von Pappel zu Pappel, ein gebildeter Stand.
Trotz ihrer Korkwarzen in der dunkelgrauen Borke
achtet die lombardische Schönheit mit Silberblick
auf die wellige Zähnung ihrer Blattränder.
Eingeschlechtlich und zweihäusig läßt sie sich
unaufgeregt vom Wind bestäuben,
Abendpfauenauge, Kleiner Schillerfalter und
Pappelschwärmer schweigen im Flüstern ihrer Blätter.
Sckell sah schon der Pappeln stolze Geschlechter ziehen
in geordnetem Pomp vornehm und prächtig.
Eine Holztafel mit den Maßen 77 mal 53 aus einem
ihrer Stämme gesägt, trägt bis heute das Lächeln der
La Gioconda auf weichem Grund.

Altmodisch

In den Zweigen der Linde bewegt sich die Welt.
Wolkenflucht, Vogelwolke, beides möglich.
Aufgehoben von einem Windstoß bekommt die
Spreu Flügel oder war es der Weizen.
Hinter dem Friedhof verwesen alte Worte.
Etwas singt tief in der Kehle oder flüstert in den
Mauernischen. Die Bodenbrüter schweigen außerhalb.
Im Kirschbaum die Himmelsleiter an einen morschen Ast gelehnt,
keine Früchte im Korb aber leuchtende Sterne an den Zweigen.
Sprich den Lichtsegen heute Abend hinein in
die verlassenen Schneckenhäuser, damit wir eine
Wohnung haben, um die Stille zu üben.

Felsen

Ihre Existenz ist zweifelsfrei. Deshalb kennen sie keine Schweißausbrüche und führen niemals Gespräche mit Regenpfeifern über den Hunger sauer gewordener Grummetgräser. In Brandungen beweisen sie ihre sprichwörtliche Standhaftigkeit. Obwohl Nebenprodukte der Schöpfung, wurde der Apostel Simon, genannt Petrus, der Felsen des Herrn, auf dem er seine Gemeinde baute. Zwischenmenschlich sind Felsen vollkommen erfüllt von ihrem Sinn, nämlich da zu sein. Daraus resultiert, daß sie sich unparteilich verhalten. Felsen lösen sich nur, um der Veränderung willen. Sie äußern sich nicht zu den Wirkungen, die sie im Fall des Falls hinterlassen. Den Felsen erkennen wir, wenn er, die Erdoberfläche durchstoßend, sein verwittertes Antlitz zeigt. Ich fühle seinen Vorwurf, weil wir ihm Gewalt antun, wenn wir seinen Leib brutal zerstückeln. Felsen lassen nicht mit sich reden. Sie bedenken nicht das Ende, sondern ertragen uns mit stoischer Gleichgültigkeit. Manchmal wohnen heiligen Nymphen in ihnen und geben im Schutz der Felsen jeglichem gern, was er im Stillen begehrt. Aber nicht einmal das bemerken wir.

Texte des Jahres 2022

Beim Splittern des Fensters

Ich vermaß Abstand und Dauer zwischen zwei Atemzügen.
Sie waren beide gleich.
Also unterschieden sich Zeit und erste Dimension
Nicht mehr.

Ich sah hinter dem geschlossenen Fenster meiner Seele
Noch einen Lichtschein ohne Quelle. Und einen Schatten,
Der meine Anwesenheit voraussetzte.

Maßstab und Stoppuhr fielen mir aus den Händen,
Als ich das Splittern des Fensters hörte, das dem Druck
Der Dunkelheit nicht standzuhalten vermochte.

Mauern gab es nicht mehr.
Der Raum, der mich umschloß, besaß weder Höhe,
Noch Breite, noch Tiefe. Ich sah,
Wie die Erde auf der Milchstraße davonrollte.
Und begann zu fallen.

Vor der endlichen Stille traf mich rechtzeitig
Der schmetternde Schlag eines Buchfinken.
Ohne ihn wäre ich weitergefallen
Und hätte endlich Bescheid gewußt.

Nach der Schlagzeile

Späte Nachrichten aus den vier Ecken der Erde,
wo die Winde die alten Botschaften aus der Weltchronik blasen.
Wolken aus Wörtern und Sätzen in der Helle des Himmels.

Darunter lassen Schattenrisse ihre Köpfe hängen,
Sie fordern im Namen der Bilder
Die Unabhängigkeit von jedwedem Objekt.

Der Regen bleibt aus, weil er keine Illusionen kennt.
Nur dürres Gras träumt noch eine Weile
von Kleeblättern am Wiesenrand, bis es brennt.

Seit dem Fehlen freundlicher Grüße in Wort und Schrift
begehren die abhanden gekommenen Wörter nichts mehr,

Doch die Sprache der Kurzschlüsse führt
Immer häufiger zu Stromausfällen.
Den Begriffen gehen dabei die Bedeutungen verloren, selbst
Sternbilder verwechseln ihre Namen. Der Rest ist Schweigen.

Wenn es endlich dunkel wird,
balanciert der Mensch auf dem Horizont entlang
von einer Ecke der Erde zur anderen und verschwindet so,
wie er gekommen ist, nackt, kläglich und sprachlos.

Aufstieg zur Lenzburg

Schritt für Schritt durch ein Spannungsfeld
Der Ewigkeit entgegen. Die Burg hielt
Stand vor dem aufziehenden Gewitter.

Mauersegler schrieben ihre Geheimschrift
In großen Schwüngen über den Dächern
Der Stadt in den Wind.

Blitzschläge brannten Skizzen
Vom ersten Schöpfungstag in die Netzhaut.
Optische Täuschung als Botschaft.

Die Stufen hoben nicht mehr an.
Sie trugen weg vom Frühlingserwachen.
Jeder Schritt ein Abschied.

Oben angekommen, nur versperrte Tore
Und die Mauern, die standgehalten hatten
Vor dem Ansturm der Hoffnung jeder Zeit.

Die Aussichtspunkte waren menschenleer.
Der Blick, in welche Zukunft auch immer,
Reichte nur bis an die vordersten Linien der Gewitterfront.

Als die ersten Tropfen aufschlugen,
begannen die Dinge des Lebens zu glänzen.
Der Abstieg endete ganz unten,
an der ersten Stufe zur Wirklichkeit.

Kalte Küche

Hauch von Kaffeeduft und faulem Fisch,
Auf grüner Wand ein regungsloser Schatten,
Vor dem Fenster geht in Ruh und Schweigen
Der Herbst zu Grunde und die Unschuld
Legt den Finger in die Wunde.

Die Zeit tropft aus dem Wasserhahn und
Teilt die Stille in zwei Teile. Davor, danach,
In der Mitte nichts.

Das Grau der Tage im Besitz der Leere.
Warten auf die letzte Ankunft vor
Geschlossenen Türen.

Am Rand des Lebens verkündet eine Stimme:
Mag es hart sein oder mild,
Endgültig ist das hier gefällte Urteil.

Allein die Vögel sind längst auferstanden,
Weit weg
Erfüllt ihr Loblied das Paradies.

Hauch von Kaffeeduft und faulem Fisch,
Auf grüner Wand ein Schatten, der sich regt
Und Platz nimmt am leeren Tisch.

An der Donau hellem Strande

I

Die Kirche am anderen Ufer schwankte leicht im Schall und Widerhall der Glocken. Der Hahn, von der Kirchturmspitze durchbohrt, schien mit seinen schwarzen Flügeln den Takt zu schlagen.
Das Weinlaub erzitterte unter einem Windhauch, der die Blumenblüten auf dünnen Stängeln in einem Duft aus Rose, Minze und Thymian schwanken ließ.Entlang der Dorfstraße verliefen sich die bunten Häuschen flußauf, flußab, als läge vor ihnen noch ein weiter Weg bis ans Ende der Tage.
Ein Fenster schlug zu und ein Tor ging auf. Katzen jagten fliehende Schatten. Ein Hoch auf den Grüner Veltliner, der überfloß, hinab in die trunkenen Wirbel der Donau. Der Fluß war ohnehin die Ursache aller Bewegung zu Wasser und zu Lande.
Da kam das Schiff ohne Segel und fuhr grußlos vorüber. Ein Fähnchen am Heck flatterte widerwillig. Ein Kind hob die Hand und winkte, winkte, bis die Hand wie ein abhanden gekommener Gegenstand wirkte. Und winkte und winkte.
Die Kirche flußüber stand wieder still.
Der Turm verbeugte sich vor den Walnußbäumen, die standgehalten hatten im Schall und Widerhall der Glocken am Ufer der Donau.

II

Würde die Donau rückwärts fließen, dann wüßten wir mehr von der Venus von Willendorf, die zwischen Groisbach und Spitz in die Erde sank und nichts ahnte vom frischen Gleisbett der Eisenbahnstrecke gen Krems, auf der sie sorgsam verpackt ihre Reise in die Kunstgeschichte antrat. Endstation Naturhistorisches Museum Wien, wo man in den außerordentlichen Proportionen ihres Leibes zwischen Brüsten und Gesäß die Weltharmonie fand.

III

Die andere Seite der Stille warf Schatten unter die Linden, die in Schweigen gehüllt den Duft der eigenen Blüten atmeten. Ihre Kronen breiteten sich taktvoll über Gräbern aus. Namen in Stein gehauen, als könnte dadurch dem Vergessen Einhalt geboten werden. Ketten begrenzten zu allem Überfluß die letzten Heimstätten. Die Namen vermochten das Unabänderliche auch nicht zu ändern. Erinnerungen meldete sich im Gesang eines unbekannten Vogels, der sich unterm Laub des Efeus verbarg. Anfang und Ende waren zu Stein geworden. Ein Schild wies darauf hin, daß Abfälle auf den Kompost am Ausgang gehören. Zuwiderhandlungen würden bestraft.

IV

Der Heilige schwang anmutig das Kreuz über seinem Haupt und kokettierte mit einem kleinen Heiland. Er übersah hartnäckig das gefrorene Lächeln zwischen den schwellenden Lippen eines Puttos zu seinen Füßen. Die Häuser rings um den Marktplatz bildeten seine Gemeinde. Das Kloster auf dem Felsen über ihren Dächern breitete seinen Schatten unabhängig von Wetterlagen und Jahreszeiten über die Stadt. Also versuchte der Heilige Trost zu spenden mit dem kreisenden Kreuz über allen Häuptern. Die Häuser nahmen davon keine Notiz. Sie blickten aus blankgeputzten Fenstern, als wäre doch noch ein Ereignis zu erwarten, das sie betreffen würde.

V

Das Café an der Donau servierte nichts. Serve your selve hieß die Devise. Kühle Köstlichkeiten, kreative Eiskreationen, Pflaume-Zimt – das Angebot der Woche. Die Qualität aus Meisterhand kam auf Plastiktellern daher, heiße Getränke im Pappbecher, der Kunststoff enthielt. Ein graues Brandenburger Tor neben einer einheimischen Marille schmückte das Gefäß. Dafür betrat man mit kompostierbaren Eislöffeln nachhaltige Pfade, die direkt zur Geschirrabgabe führten. Trinkgeld bitte hier.
König Kunde räumte gehorsam Pappteller, Pappbecher, kompostierbare Löffel und die Rechnung ab und drückte sich dann pflichtverloren vor der Reinigung des Tisches mit feuchtem Lappen.
Beehren sie uns bald wieder.
Ruhig rollten die blauen Wellen der Donau vorüber.

VI

Mit allen Wassern gewaschen, eingetaucht im Fluß, der sein Bett verlassen hat, kein Mensch sah jemals die gänzlich andere Seite des Stroms hinter den wogenden Weiden, wo es zu spät war für neue Entdeckungen. Die Stämme der Bäume von wirbelnden Strömungen umschmeichelt, die den Wasservögeln zum Verhängnis wurden. Von den Brücken segelten die Rettungsringe wie fliegende Untertassen über die Köpfe der Ertrinkenden hinweg, die sich in den Strudeltöpfen aufzulösen begannen. Zärtlich glitt blindes Abendrot über das Chaos hinweg und mäßigte die Schreie von Menschen und Vögeln. Inseln legten von neuen Ufern ab, setzten einsame Birken als Segel und trieben flußabwärts. In den Stuben der Häuser hinter mannshohen Ufermauern, denen das Wasser bis zur Krone stand, beleuchtete warmer Lampenschein den Feierabend.

VII

In Grein sah ich, wie das Gegenlicht sich in meinem Weinglas brach. Die Lichtsplitter lagen über den Tisch verstreut. Vor mir langweilte sich der Fluß lang ausgestreckt in seinem Bett. Es roch nach verbranntem Kaffee. Niemand kaufte Blumen um diese Zeit für seine Frau oder Geliebte. Heute Ruhetag, stand auf einem Schild an der Tür des Restaurants. Eine Dame im lila Dirndl las trotzdem ihrem Hund die Speisekarte vor. Da sich beide nicht entscheiden konnten, kehrten sie hungrig zurück in ihre Einsamkeit, während die Kapelle mit erhobenem Kreuz auf dem Felsen bereit zum Sprung in den Fluß schien. Ich war Zeuge und schwieg in den Anblick der Bäume am anderen Ufer vertieft. Ihr Laub liebäugelte mit dem Herbst, der seinen wissenschaftlich exakt vorhergesagten Beginn verpasst hatte.
Erdfarbe stieg aus den Wurzeln die Stämme empor und verteilte sich über die Blätter, als wäre nichts weiter geschehen. Ich trank den Wein aus und fegte mit der Hand die Lichtsplitter zusammen. Blutrot färbte sich das Flußtal.

VIII

Vor Persenbeug tauchten letzte Gründe zwischen Prallhang und Sandbank unter, Treibholz und leere Flaschen ohne stille Post schwammen über Untiefen hinweg. Dunkles presste die Augäpfel unter der Brückenwölbung zusammen, der Wind kannte das Geheimnis der Angst. Und du kennst es, ich kenne es, das rauschende Geheimnis, dem die Worte fehlen.